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Japanischer Abenteurer und Journalist in Berlin
Das linke Foto ist der japanischen Wikipedia entnommen.
Kisaku Tamai war ein japanischer Abenteurer wie man ihn ähnlich auch im Westen zu Ende des 19. Jahrhunderts nicht selten antreffen konnte. Die international auftretende Gleichzeitigkeit solcher Persönlichkeiten findet sich übergreifend in kulturhistorisch recht verschiedenen Gesellschaftssystemen. Sie hat wohl ihren Grund in der global einsetzenden Individualisierung der Persönlichkeit in sich modernisierenden Staaten, die sich aus traditionell gruppenbezogenen sozialen Strukturen zu befreien sucht.
Abenteurer vergangener Zeiten waren zumeist von äusseren Umständen in ihr abenteuerliches Leben getrieben worden. Beispiel sind die in Seenot aus den japanischen Gewässern ins Ausland abgetriebenen Seeleute, denen die Rückkehr vom asiatischen Festland in ihre Heimat während der Edo-Zeit bei Todesstrafe untersagt war wie dies in dem Roman "Der Sturm" von Yasushi Inoue beschrieben wurde. Im Gegensatz zu ihnen unternahmen moderne Abenteurer wie Kisaku Tamai aus eigener Willensentscheidung gefährliche Ausbrüche aus ihrer Alltagswelt.
Insofern kann man Kisaku Tamai bei aller Verschiedenheit mit der schweizerischen Weltreisenden Lina Bögli gleichsetzen.
Kisaku Tamai stammte aus der heutigen Präfektur Yamaguchi.
Als hochbegabter Schüler und Student erwarb er sich auf Grund seiner hervorragenden Sprachbegabung, insbesondere seiner Deutschkenntnisse, schon als junger Mensch Anerkennung. 1888 wurde er entsprechend Hochschullehrer für Deutsch an der Landwirtschaftsschule Sapporo.
1892 liess er seine Ehefrau und 3 Kinder zurück - er hatte 1884 Etsu Harada 原田エツ geheiratet - und machte sich auf eine abenteuerliche Reise über Sibirien nach Berlin. Es wird vermutet, dass es auch mangelnde finanzielle Mittel waren, die ihn zu dieser Reise bewegten, denn unterwegs auf dieser zweijährigen Reise musste er sich immer wieder das Reisegeld verdienen. So hatte er unter anderem 6 Monate in einem russischen Warenhaus in Wladiwostok gearbeitet und dann 3 Monate in Irkutsk verbracht.
Tamai reiste von Shimonoseki über Korea nach Wladiwostok. Von dort gelangte er nach Irkutsk und schloss sich bis Tomsk im tiefen sibirischen Winter einer Tee-Karawane an (ca. 1.800 km). Zwischendurch erkrankte er schwer und wurde ausgeraubt. Diese abenteuerliche Fahrt durch Sibirien beschrieb er in "Karawanenreise in Sibirien". Der Bericht wurde zuerst von der 'Kölnischen Zeitung' im Dezember 1898 veröffentlicht. Das Buch hatte Kisaku Tamai in Deutsch und Russisch verfasst. Erst 1963 wurde es in das Japanische übersetzt und veröffentlicht (Verlag Chikumashôbô 筑摩書房).
Vor Kisaku Tamai durchkreuzte der erste japanische Botschafter in Russland, Takeaki Enomoto, im Jahr 1878 Sibirien. Danach unternahm der spätere
japanische Premierminister Kiyotaka Kuroda 1886 die Reise durch Sibirien. Kurz vor Tamai ritt Oberst Yasumasa Fukushima 1891/92 mit Pferden durch Sibirien.
Danach durchquerten alle japanischen Reisenden mit der 1903 in Betrieb genommenen Trans-Sibirischen Eisenbahn Sibirien.
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„Zum erstenmal sah er große Überseeschiffe, und ihr Anblick rief ihm mit neuer Deutlichkeit wieder die Träume seiner Jugend in Erinnerung, als er in seiner Phantasie bis ans Ende der Welt gefahren war und dazu nur sein trunkenes Schiff mit einigen Leintuchstücken aus der Wäschekammer seiner Mutter zu bespannen brauchte. Nun schienen dieselben Träume wieder in ihm aufzutauchen, dieselbe Sehnsucht, weit draußen auf dem Ozean zu sein.“ (Arthur Rimbaud nach Enid Starkie: Das trunkene Schiff, S.335)
Waren es ähnlich lebendige Erinnerungen an jugendliche Fluchtpunkte wie sie Rimbaud hatte, die den späteren Lebensweg eines hochbegabten, japanischen Jungen wie Kisaku Tamai zu seinem abenteuerlichen Leben inspirierten? Sein Ausbruch, aus der rigiden Erziehung japanischer Eliteschulen im Meji-Japan des 19. Jahrhunderts in die sibirischen Weiten und das ferne Deutschland in Europa aufzubrechen, war sicher schon in solch' phantasievollen Ideen der Jugend angelegt. Reale Zielpunkte wie die Ferne, die Weite, das Unbekannte konnten so Wirkung in einem als unerträglich empfundenen, da den individuellen Geist einengenden, und vermeindlich unentrinnbar öden Gesellschaftssystem entfalten.
In diesem Sinn schrieb Ernst Jünger in seinen "Afrikanischen Spielen": "Es gibt eine Zeit, in der dem Herzen das Geheimnisvolle nur räumlich auf den weißen Flecken der Landkarte erreichbar scheint und in der alles Dunkle und Unbekannte eine mächtige Anziehung übt." (S.6) und: "Ich vermutete mit Recht, dass man den natürlichen Söhnen des Lebens nur begegnen könne, indem man seinen legitimen Ordnungen den Rücken kehrt." (S.9/10).
Eine Brücke auf dem Weg zu solchen Fluchtpunkten bauten fremde Sprachen. Sie eröffneten einen gangbaren Weg in neue Dimension. Allein schon der Klang der einem Japaner völlig fremd klingenden Wörter wie die des harten Deutsch erhielten von hier ihre Anziehungskraft. Deutsch war ja nicht umsonst eine Art Code für elitäre Zirkel in der japanischen Oberschicht des 19. Jahrhunderts, das eine tiefer gehende Bedeutung besass als blosses Instrument zu sein, mit dem von Deutschland Medizin, Technik, Naturwissenschaften, Recht und anderes Wissen zur praktischen Verwertung beim Aufbau des eigenen Landes übernommen werden konnten.
Dieser das Abenteuer suchende, individuelle Antrieb dem Alltag zu entkommen, ist keine Erscheinung nur des 19. Jahrhunderts geblieben, sondern hat bis heute Wirkung und Faszination auf Dritte, auch in Japan bewahrt. 1999 wurde der japanische Abenteurer Mitsurô Ôba - der erste Mensch der Welt, der zu Fuß den Nord- und Südpol durchquert hat - nach einem Vortrag von einem Zuhörer angesprochen: "Ich bin sehr bewegt durch ihren Vortrag. Ich war über 30 Jahre im Gesellschaftssystem integriert und bei dem Elektrokonzern Hitachi beschäftigt. Jetzt bin ich pensioniert. Ich bin gekommen, um zu sehen, wie einem Menschen wie Sie persönlich zu begegnen."
Lebensphilosophie und abenteuerlicher Lebenslauf von Ôba wie von seinem Vorgänger Tamai, der sich ja wie Ôba durch eiskalt unwirtliche Landstriche durchschlug, kontrastieren mit dem der meisten Menschen, wecken Interesse an ihm als einer Art Messlatte für das eigene Leben. Ähnlich wie das Lebensmotto von Kisaku Tamai lautete, hielt sich Ôba sein Leben lang an die Lehre eines väterlichen Freundes: "Tue, was Du selbst gerne möchtest und versuche, das dann zu erreichen. Hierzu muss man erst seinen eigenen Standort im Leben, den man einnimmt oder einnehmen will, finden. Das Ziel ist dann die Erkenntnis: Das habe ich geschafft (yatta). Dann kann man mit einem Lächeln auf den Lippen sterben."
Das entspricht Tamais Lebensmotto 'solche Dinge zu unternehmen, die Andere nicht anpacken'. Das drängte ihn zunächst in eine gewisse Aussenseiterrolle in seiner Heimat und später anfangs auch in der Berliner Gesellschaft. Dort hatte Tamai auch unter seinen japanischen Landsleuten ein abwartendes Erstaunen hervorgerufen.
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1894 kam Kisaku Tamai endlich an seinem Zielort in Berlin an. Zunächst arbeitete er in einem Teegeschäft und studierte dann von 1895 bis 1896 Rechtswissenschaft. Da Japan schon durch den gleichzeitig mit seinem Ankunftsjahr ausgebrochenen Japanisch-Chinesischen Krieg 日清戦争 (1894-1895) Aufmerksamkeit auf sich gezogen, verdiente er dort mit Berichten und Artikeln in Zeitungen seinen Lebensunterhalt und begann seine journalistische Karriere.
1898 gab er die Zeitschrift "TOA. Ostasien. Monatszeitschrift für Handel, Industrie, Politik, Wissenschaft, Kunst" heraus. Es war das erste japanische Pressemedium in deutscher Sprache und erste japanische Zeitschrift in Europa auftrat. Unterstützt wurde er dabei von Alexander von Siebold (1846 - 1911), der lange Jahre als diplomatischer Berater der japanischen Regierung in Japan gewirkt hatte. Durch die Darstellung Japans und darüber hinaus Asiens durch japanische und gleichzeitig durch deutsche Augen wurde die jeweils unterschiedliche Sicht einer breiteren Öffentlichkeit bekannt.
Auch in Japan berichtete er umgekehrt über Deutschland in der Osaka Asahi Shimbun 大坂朝日新聞.
Tamais Zeitschrift wurde nach seinem Tod noch bis bis 1910 fortgeführt. Es war eine Zeit, in der das deutsch-japanische Verhältnis bereits erheblich eingetrübt war, denn Deutschland hatte sich mit Frankreich und Russland in der Ostasienpolitik gegen Japans Vordringen auf dem asiatischen Festland verbündet.
Die selbstbewusste Haltung des Japaners Tamai gegenüber westlichen Staaten, die er in seiner zum Großteil von ihm selbst verfassten Artikeln seiner Zeitschrift vertrat, liess ihn immer wieder daraufhin weisen, wie stark die in Deutschland über Japan vorherrschende Meinung von der Wirklichkeit in seiner Heimat abweiche. Auch seine Anlysen Europas geben ein eindrucksvolles Bild von der Haltung Japans gegenüber den westlich-europäischen Nationen zur Jahrhundertwende wieder. Andreas Weiss verdanken wir hierzu eine detaillierte Analyse.
1906 verstarb Kisaku Tamai in Berlin. Zu dieser Zeit war er in Berlin bereits so bekannt geworden, dass 300 Personen an seinem Begräbnis teilgenommen haben sollen, darunter viele Prominente. Das zeigt, dass er seine Aussenseiterrolle weitgehend überwunden hatte. Durch seine journalistische ebenso wie seine menschliche Hilfsbereitschaft und Arbeit hatte er sich in der japanischen Gemeinde sogar den Ruf als eine Art "inoffizieller Botschafter Japans" erworben.
Kisaku Tamai wurde in Japan und in Berlin begraben. 1924 soll vor der Berliner Industrie- und Handelskammer eine Büste zu seinem Andenken errichtet worden sein.